Hintergrund 158 sich zusammen. Mit Fortinbras übernimmt ein Pragmatiker die Herr- schaft. Er ist Nachfolger von Hamlet und Claudius; an die Stelle des Beziehungsgefüges von Sein und Schein tritt die Realpolitik. 17. Letztlich scheitert Hamlet daran, dass er die Unterscheidung zwischen Schein und Sein, zwischen Sein und Nicht-Sein nicht mit befriedigender Schärfe treffen kann. Seine wahre Aufgabe wäre die Anerkennung der Paradoxie einer prosopischen Einheit gewesen: dass nämlich die Fiktion des Theaterstücks zugleich die Wahrheit über den Tod seines Vaters er- zählt; dass die unwirkliche Geistererscheinung zugleich Wirklichkeit sein muss, da sie von Fakten im Diesseits spricht und konkrete Hand- lungsanweisungen vorgibt, wie ein Regisseur aus dem Jenseits. Hamlet wird die Aufgabe übertragen, Theater und Welt voneinander zu schei- den und klare Kriterien für diese Unterscheidung zu finden. Nur stammt dieser Auftrag von einer Figur, die selbst zwischen Tod und Leben, zwi- schen Körperlichkeit und Körperlosigkeit schwebt. Als imitiere er die ambivalente Geistererscheinung, besteht Hamlets Lösungsversuch des Problems nun fatalerweise darin, zunächst Hofwelt und Theater in Ver- bindung zu bringen, ja zu vermischen, so wie der Geist anfangs Diesseits und Jenseits vermengt. Mit dem Ergebnis, dass weitere Dualismen auf- geweicht werden und sich in fließende Übergänge verwandeln, authen- tische und geheuchelte Gefühle, Freundschaft und Feindschaft, Liebe und Hass, Vernunft und Wahnsinn. 18. So erscheinen zum Schluss die wirklichen Morde und Morde wider Wil- len als Befreiungsschläge, um die Paradoxien in Helsingör zu zerstören – oder ihre Richtigkeit zu beweisen. Als Crux in Hamlets ontologischer Grundfrage erweist sich am Ende das Wörtchen »oder«, das zu einer Entscheidung zwischen Sein oder Nicht-Sein zwingt. Die berühmte Frage ist eine Entscheidungsfrage, die ein Sowohl-als-Auch alsAntwort nicht zulässt.9 Wo Hamlet nicht in der Lage war, rational zwischen einem 9 Laut Wolfgang Riehle werden in Hamlet «paradoxe Erfahrungen des Mensch- seins gestaltet, die es auszuhalten gilt.» Wie er mit Verweis auf J. L. Calder- wood, To be and not to be, Negation and Metadrama in Hamlet, NewYork 1983, feststellt, geht die Opposition «Sein oder Nicht-Sein» über in «die paradoxe Anerkennung derWidersprüchlichkeit» eines «Sein und Nicht-Sein».Wolfgang Riehle, Zum Paradoxon bei Shakespeare, in: Paul Geyer und Roland Hagen- büchle (Hg.), Das Paradox, S. 335 – 353, hier S. 347 f.