Hintergrund 159 glaubwürdigen und einem unglaubwürdigen Geist zu unterscheiden, zwischen einem schuldigen und einem unschuldigen Onkel, wird er zu einer emotionalen Entscheidung zugunsten seines Vaters getrieben und damit zu einem Mord, anscheinend das einzige sichere Mittel, um sich Gewissheit zu verschaffen – immerhin die Gewissheit eines Unterschieds zwischen einem lebenden Onkel und einem ermordeten Onkel. Nur hat sich hier die Gewalt schon längst auf eine andere Ebene verschoben: Hamlet versucht, das Paradoxe selbst zu ermorden. Nur kann er das durch Gewalt nicht aus der Welt schaffen. 19. So scheitert Hamlet nicht an der Wirklichkeit, sondern an seinem inne- ren Zwang, einerseits seine paradoxen Wahrnehmungen und anderer- seits die Überzeugung, dass es paradoxe Wahrnehmungen nicht geben darf, miteinander in Einklang zu bringen. Hamlet sehnt sich nach einer widerspruchsfreien Welt; doch er verstrickt sich immer mehr in Wider- sprüche. Er will seinen Intellekt dazu einsetzen, klare Unterscheidun- gen zu treffen; doch dadurch schafft er sich eine Welt, deren Widersprü- chen, Asymmetrien und Differenzen er emotionell nicht mehr gewach- sen ist. Alles erscheint ihm nun als zwiespältig. Er will den Zwiespalt überwinden, gleichsam derWelt gegenüber indifferent werden, doch der zerreißt ihn. Am Ende hindert ihn sein Mitgefühl an der Tat. Hamlet verkörpert diesen Grundkonflikt zwischen den intellektuellen und emo- tionellen Impulsen der Person, eine konstitutive Paradoxie. Wo der Geist trennen möchte, sucht der Körper die Einheit. Körper und Geist arbeiten nach zwei verschiedenen Prinzipien, Vereinigung und Unter- scheidung. Wenn es sich umkehrt, wenn also der Geist das Unvereinbare (Leben und Tod, Sein und Nicht-Sein) als Einheit denken muss, wird das Unterscheidungsprinzip auf den Körper übertragen. Mord und Selbst- mord erscheinen dann als Verzweiflungstaten des Intellektuellen ange- sichts der intellektuellen Undurchdringlichkeit des Paradoxen. Der ver- storbene HofnarrYorick, der nur noch als Schädel auftritt, erscheint im Nachhinein als Hauptfigur, als Sinnbild der Gewissheit, dass er im Tod wirklich tot ist und nicht als Gespenst herumgeistert und dass er nicht mehr spielt und sich verstellt – alle Narrenmasken sind abgeworfen, auch die letzte, das Gesicht.