Hintergrund 153 selbst als Ermordeter spricht. Der Geist beauftragt Hamlet, ihn zu rä- chen. Aber der Prinz muss sich fragen, ob die bloße Behauptung des Geistes ausreicht, um ein derartiges Verbrechen zu rechtfertigen, zumal in der Welt der Lebenden jeder Beweis für die Tat oder gar ein Geständ- nis des angeblichen Mörders fehlt. Zur Rechtfertigung einer Tat in der diesseitigen Welt will sich Hamlet diesseitige Beweise verschaffen. Er braucht die Gewissheit, dass sein Onkel Claudius tatsächlich der Mörder seines Vaters ist, wie der Geist behauptet. Was nun die Situation zusätz- lich erschwert, ist die Tatsache, dass Claudius auf dem Thron sitzt und ihn der Hof als rechtmäßigen König anerkennt, das heißt: nur ein Toter behauptet, Claudius sei ein unrechtmäßiger König, die Lebenden be- haupten es nicht. Hamlet muss nicht nur sich selbst überzeugen, dass Claudius ein mörderischer Usurpator ist, bevor er die – vom Geist und von der traditionellen Dramaturgie der Rachetragödie – geforderte Ra- chetat begeht, sondern vor allem auch den Hof. Ohne die Unterstützung des Hofes stünde Hamlet nach begangener Tat als Königsmörder da und nicht als Rächer seines Vaters und legitimer Thronfolger. Wie soll nun Hamlet einen Beweis erbringen? Wie kann er vom jetzigen Machthaber ein Geständnis erzwingen? 9. Noch schützt Hamlet seine angebliche Unwissenheit. Doch er ist ge- zwungen, seine Beweisfindung im Geheimen durchzuführen. Falls Clau- dius Verdacht schöpft, dass Hamlet über den Mord informiert ist, wird er ihn konsequenterweise auszuschalten versuchen, um seine Macht zu erhalten; einer, der seinen Bruder ermordet, würde wohl kaum davor zurückschrecken, auch seinen Neffen zu ermorden. Dadurch, dass ihn der Geist zum Mitwisser eines Verbrechens macht, muss sich Hamlet nun verstellen, um sich nicht zu verraten. Die Aussage des Geistes zu verifizieren, heißt zu beweisen, dass Claudius ein Heuchler ist. Wenn es stimmt, dass er Hamlets Vater vergiftet hat, so hat Claudius Schein-Tat- sachen geschaffen; die ganze Zukunft des Hofes beruht auf einem Be- trug. Der oberste Machthaber ist der größte Übeltäter. Wenn Verstel- lung im Sinne Heideggers verstanden wird als verdeckter Zugang zum Sein,4 so ist Claudius aus der Perspektive des Geistes eine solche Schein 4 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1977, S. 129.